Gendersensible Suchtarbeit

Wie in jedem Gesundheitsbereich spielt das biologische und soziokulturelle Geschlecht auch im Feld der Abhängigkeitserkrankungen eine wichtige Rolle. Wissenschaft und Praxis zeigen, dass sich Frauen und Männer, Jungen und Mädchen sowohl hinsichtlich stoffgebundener Konsummuster voneinander unterscheiden als auch bezüglich problematischer Verhaltensmuster. Selbst Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren nehmen bereits wahr, dass sich das Trinkverhalten in Bezug auf Alkohol von Frauen und Männern unterscheidet1. Empirische Erkenntnisse zeigen dabei im Allgemeinen folgendes:

  • Jungen und junge Männer konsumieren häufiger, mehr und risikoreicher Alkohol als Mädchen und junge Frauen2.
  • Mädchen sind wesentlich häufiger der Meinung, dass sie abnehmen müssten und/oder machen bereits eine Diät3.
  • Die Mehrheit der Jungen wünscht sich einen muskulöseren Körperbau4 5.
  • Frauen konsumieren und missbrauchen häufiger Schmerz-, Schlaf- und Beruhigungsmittel6 7 sowie Nahrungsmittel8.
  • Männer greifen häufiger zu Alkohol und/oder illegalen Drogen und werden davon abhängig9.

Auch Motive, Ursachen sowie Risiko- und Schutzfaktoren sind abhängig vom Geschlecht. Im Wesentlichen zeigen sich außerdem alters- und schichtabhängige Unterschiede. Die genannten Punkte machen jedoch bereits deutlich, dass eine geschlechtersensible und in vielen Fällen -differenzierte Suchtarbeit notwendig ist.

Um diese Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen gibt es neben zielgruppenspezifischen Informationsmaterialien spezialisierte Beratungs- als auch Behandlungsmöglichkeiten und Organisationen, die sich um die Präsenz des Themas kümmern und Netzwerkarbeit leisten:

  • Der Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen Essen e. V. („BELLA DONNA“) bietet Unterstützung für hilfesuchende Mädchen und Frauen. Neben der Essener Beratungsstelle engagiert sich der Verein seit Jahren für die Präsenz des Themas, vernetzt Fachleute und entwickelt die mädchen- und frauenbezogene Arbeit weiter. Weiterhin fungiert der Verein als Landeskoordinierungsstelle Frauen und Sucht NRW. Weitere Informationen zu BELLA DONNA finden Sie auf der Internetseite des Vereins.  
  • Der Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e.V. (LAGAYA) setzt sich für frauenspezifische Ansätze in der Suchtarbeit ein und bietet in Stuttgart Beratung sowie Hilfen für Betroffene vor Ort an. Darunter fallen auch Angebote für Betreutes Wohnen für unterschiedliche Problemlagen. Mit Mädchen.Sucht.Auswege kümmert der Verein sich außerdem aktiv um die ambulante Beratung von Mädchen. Weitere Informationen zu LAGAYA finden Sie auf der Internetseite des Vereins. 
  • Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL) hat in seiner Funktion als Landeskoordinierungsstelle Sucht den Arbeitskreis „Mann und Sucht“ ins Leben gerufen, der die Fachleute ermutigen möchte, geschlechtsspezifische Angebote zu entwickeln und in einen gemeinsamen Austausch zu treten. Weitere Informationen zum Arbeitskreis „Mann und Sucht“ finden Sie auf der Internetseite. 
  • FrauSuchtZukunft Verein zur Hilfe suchtmittelabhängiger Frauen e.V.bietet suchtmittelabhängigen Frauen in Berlin eine Vielzahl an Beratungs- und Behandlungsangeboten. Neben psychosozialer Betreuung, Beratung und Clearing, Kriseninterventionen und ambulanter Suchttherapie werden z. B. auch Besuche und Beratungen in der JVA für Frauen angeboten.
  • Die Schwulenberatung Berlin bietet eine Offene queere Suchtgruppe an, in der sich Menschen ohne vorherige Anmeldung zum Thema Substanzgebrauch und -abhängigkeit austauschen können. Darüber hinaus informieren sie über relevante Themen wie beispielsweise Chemsex. Ein kostenfreier, anonymer Onlineleitfaden, der Betroffenen helfen soll ihre Konsumgewohnheiten zu verändern, kann über die Webseite bezogen werden.
  • SHALK NRW ist ein seit 1994 bestehendes Selbsthilfenetzwerk für homo- und bisexuelle Menschen mit einer Suchterkrankung, das zurzeit in zehn Städten in NRW etabliert ist.
  • „quapsss“ (Qualitätsentwicklung in der Selbsthilfe für MSM, die psychoaktive Substanzen im sexuellen Setting konsumieren) ist ein Angebot der Deutschen Aidshilfe in Kooperation mit örtlichen Organisationen und therapeutischen Fachkräften, das sich an Männer richtet, die Chemsex praktizieren. Selbsthilfegruppen in verschiedenen Städten sollen mit unterschiedlichen konzeptionellen und theoretischen Bezügen initiiert werden, um die physischen und psychischen Probleme, die bei der Einnahme von psychotropen Substanzen im sexuellen Kontext entstehen, durch Beratung und Therapie zu bearbeiten. Eine Übersicht von Beratungsstellen, die Gruppenangebote im Rahmen dieses Projekts bereitstellen, können hier gefunden werden.
  • Des Weiteren bietet die Beratungsstelle 4be TransSuchthilfe in Hamburg, die speziell und in erster Linie Angebote für trans, nicht binären und genderdiversen Menschen anbietet, Beratung und Unterstützung in Suchtfragen sowie die Vermittlung in weiterführende Hilfen an. Dabei wir die Klientel durch erfahrene Peers, Psychotherapeutinnen und -therapeuten betreut. Bei Bedarf organisiert die Beratungsstelle zudem Gruppen-, Multiplikatorinnen-/Multiplikatoren- und Schulveranstaltungen sowie Fortbildung zum Thema.10
  • Condrobs e.V. bietet spezialisierte Unterstützungen von Frauen für Frauen an. Ob Hilfe bei der Sucht nach Alkohol oder Drogen, Unterstützung für junge Mütter oder Hilfe für Frauen, die alleine nach Deutschland geflüchtet sind – Hilfesuchende erhalten entsprechende Angebote.

Gender Mainstreaming

Alle Überlegungen und Maßnahmen, die sich mit einer geschlechtergerechten und -differenzierten Suchtarbeit auseinandersetzen, beruhen wiederum auf dem Ansatz des sogenannten „Gender Mainstreamings“. Dabei handelt es sich um eine Aufgabe der Entscheidungstragenden, Leistungsverantwortlichen und von Mitarbeitenden, in allen Bereichen des Suchthilfesystems (Politik, Forschung, Prävention, Beratung, Behandlung, Nachsorge, Selbsthilfe etc.) mit dem Ziel, die Gleichstellung von Frauen und Männern zu verwirklichen. Dabei wird zum einen die Ebene der Organisationen und Einrichtungen mit ihren Beschäftigten berücksichtigt. Zum anderen setzt Gender Mainstreaming die weitere Behebung der vielfach aufgezeigten Defizite und Ungleichbehandlung von Frauen als "Kundinnen" der Suchthilfe voraus und baut auf den Erkenntnissen frauenspezifischer Suchtforschung und -praxis auf. Darüber hinaus wird Gender Mainstreaming als konsequente Ergänzung und Weiterentwicklung der frauenbezogenen Sichtweise verstanden, die es zusätzlich erlaubt, eine gendersensible Perspektive auch auf Männer anzuwenden.

Gender Mainstreaming ist eine verbindliche Projektleitlinie der Europäischen Union und ihrer Mitgliedstaaten. Diese wurde auf den Ebenen des Bundes und der Länder gesetzlich verankert und die Umsetzung wird mit Hilfe struktureller Maßnahmen gefördert. Durch die Weltgesundheitsorganisation WHO wurde darüber hinaus die Notwendigkeit von Gender Mainstreaming für eine geschlechtergerechte Gesundheitspolitik und -praxis formuliert, woraus sich die Anwendung auf den Suchtbereich zwingend ableitet.

Weitere Informationen zum Gender Mainstreaming in der Suchtarbeit

1 Kuntsche, E.; Le Mével, L.; Zucker, R. A. (2016): What do preschoolers know about alcohol? Evidence from the electronic Appropriate Beverage Task (eABT). Addictive Behaviors, (61), 47-52.
2 Orth, B.; Merkel, C. (2019): Der Alkoholkonsum Jugendlicher und junger Erwachsener in Deutschland. Ergebnisse des Alkoholsurveys 2018 und Trends. BZgA-Forschungsbericht. Köln: Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
3 HBSC-Studienverbund Deutschland (2020): Studie Health Behaviour in School-aged Children – Faktenblatt „Körperbild und Gewichtskontrolle bei Kindern und Jugendlichen” (Autorinnen Finne, Schlattmann, Kolip).
4 Mohnke, S.; Warschburger, P. (2011): Körperunzufriedenheit bei weiblichen und männlichen Jugendlichen: Eine geschlechtervergleichende Betrachtung von Verbreitung, Prädiktoren und Folgen. Praxis der Kinderpsychologie und Kinderpsychiatrie, (60), 285-3035.

5 Grimminger-Seidensticker, E.; Möhwald, A.; Korte, J.; Trojan, J. (2018): Body dissatisfaction in normal weight children – sports activities and motives for engaging in sports. European Journal of Sport Science, (18). 1013-1021.
6 Atzendorf, J. et al. (2019): Gebrauch von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und Medikamenten. Deutsches Ärzteblatt, (116), 577-584.
7 Seitz, N.-N. et al. (2019): Kurzbericht Epidemiologischer Suchtsurvey 2018. Tabellenband: Medikamenteneinnahme und Hinweise auf Konsumabhängigkeit und -missbrauch nach Geschlecht und Alter im Jahr 2018. München: Institut für Therapieforschung.

8 Lindvall Dahlgren, C.; Wisting, L.; Rø, Ø. (2017): Feeding and eating disorders in the DSM-5 era. A systematic review of prevalence rates in non-clinical male and female samples. Journal of Eating Disorders, 5(1), 56.
9 Atzendorf, J. et al. (2019): Gebrauch von Alkohol, Tabak, illegalen Drogen und Medikamenten. Deutsches Ärzteblatt, (116), 577-584.
10 Höke et al. (2021): Behandlung. Workbook Treatment. Bericht 2021 des nationalen REITOX Knotenpunkts an die EMCDDA (Berichtsjahr 2020/2021). München: DBDD.